Dortmund: Blended Learning als Instrument der Fachkräfteentwicklung in der Pflege
Interview zum Projekt PiA
Ein oft unterschätzter Aspekt der allgemeinen Fachkräfteknappheit im Pflegebereich ist der Mangel an qualifiziertem Führungsnachwuchs. Ein wichtiger Beitrag zu seiner Behebung ist die verstärkte Gewinnung bereits beschäftigter – d.h. de facto überwiegend weiblicher – Pflegefachkräfte für Aufstiegsqualifizierungen. Sie gelingt bislang nur selten, weil ihr strukturelle Hemmnisse bei den Betrieben, bei den Frauen selbst und bei den Rahmenbedingungen der Qualifizierungen entgegenwirken. Dies gilt insbesondere für die in der Branche stark vertretenen Frauen mit Migrationshintergrund. Im Interview berichtet das Projektteam der Grone Bildungszentren NRW GmbH, Dr. Katy Teubener (Projektleitung), Thies Albers (Lernbegleitung) und Hartmut Hering (Betriebsbetreuung), wie sie im Projekt „PiA – Perspektiven in der Altenpflege“ diese Herausforderungen angehen.
Um was geht es im Projekt „PiA – Perspektiven in der Altenpflege“
(K.T.) Ziel von PiA ist es, weibliche Pflegefachkräfte aus kleinen und mittleren Pflegebetrieben verstärkt für Leitungs- und Führungspositionen zu gewinnen und ihre Betriebe bei der Realisierung einer gleichstellungsorientierten Betriebskultur zu unterstützen.
Hintergrund ist der große Bedarf der Pflegebranche an qualifiziertem Führungsnachwuchs. Um ihn zu decken, müssten stärker als bisher die vorhandenen Fachkräfte aktiviert werden. Das sind zu fast 90 % Frauen, die bislang weniger als 50% der Leitungskräfte stellen. Damit weibliche Fachkräfte stärker in Führungsverantwortung gehen, gilt es aber zunächst eine Reihe von Hindernissen zu beseitigen – auf Seiten der Betriebe, der Frauen selbst und beim Zuschnitt der entsprechenden Qualifizierungsangebote.
Was hat Sie bewogen, dieses Projekt zu konzipieren?
(K.T.) Die genannten Herausforderungen sind seit langem bekannt, aber das allein ändert ja noch nichts. PiA will konkrete Lösungsansätze erproben und dadurch mithelfen, die Rahmenbedingungen für Frauen bei der Übernahme von Leitungsaufgaben zu verbessern. Unterstützt wird das Projekt dabei von der Grone Akademie für Gesundheits- und Pflegeberufe, die gute Kontakte zu Pflegebetrieben hat und viel Erfahrung in der Qualifizierung von Pflegefachkräften mitbringt.
(H.H.) Es leuchtet ein, dass neue Formate zur Unterstützung von Frauen nicht im laufenden Betrieb entwickelt und erprobt werden können. Die dazu nötigen personellen und didaktischen Ressourcen kann nur ein gefördertes Projekt bereitstellen. Das Förderprogramm „Fachkräfte sichern – weiter bilden und Gleichstellung fördern“ bot da genau den richtigen Rahmen.
An welche Zielgruppe wenden Sie sich?
(K.T.) Das Projekt richtet sich an kleine und mittlere Pflegebetriebe, weil sie bei der Personalentwicklung mehr Unterstützung benötigen als große Unternehmen. Zielgruppe der Qualifizierungen sind weibliche Pflegefachkräfte mit Karrierepotenzial, denen noch die Motivation zur Übernahme von Leitungspositionen fehlt oder die aufgrund ihrer persönlichen Situation für sich keine Chance zur Weiterqualifizierung sehen. Hier liegen noch enorme personelle Ressourcen brach.
Wie sieht die Umsetzung im Detail aus?
(K.T.) PiA konzentriert sich auf die genannten Einflussfaktoren, d.h. den Betrieb, die Frauen selbst und die konkrete Ausgestaltung der Qualifizierungsangebote.
Um die Betriebe für eine gleichstellungsfreundliche Unternehmenskultur zu sensibilisieren, haben wir zu Beginn entsprechende Veranstaltungen mit Fachleuten geplant. Die Resonanz war jedoch eher schwach, weil die Pflegeeinrichtungen auch schon vor Corona zeitlich am Limit arbeiteten und Angebote ohne direkten betrieblichen Nutzen nur schwer zu platzieren sind.
(H.H.) Wir sind deshalb dazu übergegangen, den Betrieben Themen mit unmittelbarem betrieblichem Nutzen anzubieten, beispielsweise zum Thema Generalistik. Die Resonanz war deutlich besser.
(K.T.) Neben den Betrieben zielen wir vor allem auf die Frauen selbst. Um sie bei ihrer Entscheidung für eine Aufstiegsqualifizierung zu unterstützen, bieten wir ganztägige Workshops an, in denen sie ihre Potenziale analysieren und ihre persönliche Situation reflektieren können. Das Format hat sich als wichtiger Baustein zur Förderung der Weiterbildungsbereitschaft von Frauen erwiesen.
Bereitschaft allein recht jedoch nicht aus. Wie müssen Qualifizierungsangebote gestaltet sein, damit berufstätige Frauen sie trotz oft schwieriger persönlicher Rahmenbedingungen nicht nur wahrnehmen wollen, sondern auch können? Die klassische Vor-Ort-Schulung ist für viele zu unflexibel und damit eine große Hürde. Herzstück des Projektes ist deshalb die schrittweise Entwicklung eines Blended Learning-Kurses mit hohem Anteil digital gestützter, d.h. zeit- und vor allem ortsunabhängiger Lernformen. Wir erproben das konkret am Beispiel der 300 Stunden umfassenden Qualifizierung zur Praxisanleiterin, die wir insgesamt viermal durchführen und die für die meisten der teilnehmenden Frauen ein erster Schritt in Richtung Führung ist.
Wie viele Betriebe konnten Sie zur Teilnahme am Projekt motivieren? Und welchen Mehrwert haben Betriebe von einer Teilnahme?
(H.H.) Das Interesse der Betriebe war von Anfang an sehr groß. Statt der geforderten 15 nehmen mittlerweile rund 30 Unternehmen am Projekt teil, was vor allem an der Qualifizierung zur Praxisanleiterin liegt. Die seit 2020 geltende generalistische Pflegeausbildung fordert von den Pflegebetrieben, eine ausreichende Anzahl ausgebildeter Praxisanleiter*innen zu beschäftigen. Das Projekt kam deshalb für viele Betriebe zum richtigen Zeitpunkt, um ihren Bedarf in dieser Frage rechtzeitig zu decken.
Und wie profitieren die Teilnehmerinnen?
(K.T.) Zunächst können die Frauen im Rahmen eines Workshop überprüfen, ob sie in Leitungsverantwortung gehen und als ersten Schritt die Qualifizierung zur Praxisanleiterin absolvieren möchten – oder auch nicht. Für diejenigen, die sich für die Qualifizierung entscheiden, besteht die Chance an einer Schulung teilzunehmen, die durch den Einsatz digitaler Lernformen so weit wie möglich auf ihre zeitlichen und persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist.
(H.H.) Bei unseren Informationsgesprächen mit den Betrieben haben wir noch einen interessanten Hinweis erhalten. Mehrfach wurde vorgeschlagen, bei der Potenzialanalyse der Pflegekräfte noch früher anzusetzen und auch Pflegehelferinnen mit einjähriger Ausbildung zu den Workshops einzuladen. Unter ihnen finden sich nach Aussage der Betriebe zahlreiche Frauen mit Potenzial, das bislang völlig unerkannt und ungenutzt ist. Wir planen deshalb, im kommenden Frühjahr einen entsprechenden „Helferinnenworkshop“ anzubieten.
Wie läuft die Qualifizierung der Teilnehmerinnen ab?
(K.T.) Zu Beginn der Qualifizierung werden alle Teilnehmerinnen mit einem Tablet ausgestattet und mit den eLearning-Tools des Kurses vertraut gemacht. Die erste der vier Staffeln begann als klassische Vor-Ort-Schulung, kombiniert mit Aufgaben, die online, d.h. ortsunabhängig bearbeitet werden konnten. Weil die Teilnehmerinnen bereits erste Erfahrungen mit digital gestütztem Lernen gesammelt hatten als die Corona-Epidemie ausbrach, konnte der Kurs ohne große Probleme weitergeführt und ein vorzeitiger Abbruch verhindert werden. Die Teilnehmerinnen kamen erstaunlich gut mit dem plötzlichen ‚Digitalisierungsschub‘ zurecht. Das hat uns motiviert, diese Richtung konsequent weiterzuverfolgen.
(T.A.). Um uns von der Entwicklung der Corona-Epidemie unabhängig zu machen, haben wir beschlossen, die zweite Staffel ausschließlich online durchzuführen. Mit der orts- und zeitunabhängigen Bearbeitung von Aufgaben hatten bereits die Teilnehmerinnen der ersten Staffel Erfahrungen sammeln können. Jetzt galt es noch eine weitere, und wie sich schnell herausstellen sollte, viele größere Herausforderung zu meistern: Die Verlagerung der Kommunikation mit den Lehrenden und der Lernenden untereinander in den virtuellen Raum – und zwar in Echtzeit. Was vor Ort noch leidlich funktionieren mag, nämlich Frontalunterricht, erweist sich in der Online-Lehre schnell als pure Zumutung. Hier sind vor allem die Lehrenden aufgefordert, ihre bisherige Rolle im Lernprozess kritisch zu hinterfragen.
(K.T.): Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass digital gestützte Lehre nur unter der Voraussetzung gelingt, dass die Lernzeit von den Lehrenden interaktiv, praxisorientiert und möglichst unterhaltsam gestaltet wird. Dass wir uns diesbezüglich auf einem guten Weg befinden, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass unserer Qualifizierung ein Lernbegleiter nicht nur für die Lernenden zur Seite steht, sondern auch für die Lehrenden, die neben technischen vor allem methodisch-didaktische Herausforderungen bewältigen müssen. Wie wir den Erfolgsfaktor der kontinuierlichen Lernbegleitung auch für Qualifizierungen jenseits von geförderten Projekten verstetigen können, werden wir in den kommenden Staffeln näher untersuchen. Aktuell bereiten wir den dritten Durchgang vor, der Anfang Februar 2021 starten wird.
Welche Rolle spielen digitale Lernelemente?
(K.T.) Der Einsatz digitaler Lernformen ist für unser Ziel, besonders Frauen aus dem ‚Korsett‘ von Vor-Ort-Veranstaltungen zu befreien und ein möglichst zeit- und vor allem ortsunabhängiges Lernen zu ermöglichen, von zentraler Bedeutung. Schon die ersten Schritte in diese Richtung wurden von den Frauen – übrigens durchaus zu unserer Überraschung – einhellig positiv beurteilt.
Hinzu kommt, dass uns die zunehmende Verlagerung von Arbeit und Kommunikation in den virtuellen Raum zur Erprobung alternativer Lehr- und Lernformen zwingt und – einmal in Fahrt gekommen – unglaublich spannende Erfahrungen machen lässt. So haben wir beispielsweise damit begonnen, interaktive Selbstlerneinheiten zu entwickeln, die dem Prinzip des Storytellling folgen, d.h. dem emotionalisierten Erzählen von Fakten mithilfe einer Identifikationsfigur. Die ‚Abenteuer‘ unserer computeranimierten Praxisanleiterin Pia bei der Betreuung ihres Azubis Marco sind direkt dem Pflegealltag entnommen und eng an die betrieblichen Erfahrungen der Teilnehmerinnen angebunden. Die positive Resonanz auf die ersten Einheiten hat uns ermutigt, ‚Pias Welt‘ nach und nach um neue Situationen und Personen zu erweitern.
Gibt es besonders schöne Erfahrungen, die Sie im Projektverlauf gemacht haben?
(T.A.) Positiv überrascht hat uns der hohe Grad an Selbstorganisation der Teilnehmerinnen. Selbst im zweiten Kurs, der sich anfangs nur aus der Ferne kannte, wurde ohne unser Zutun sofort eine WhatsApp-Gruppe gebildet, in der sich die Frauen austauschen, gegenseitig helfen und Fragen klären. Diese Fähigkeit, fehlende persönliche Nähe auszugleichen und für das eigene Bedürfnis nach Austausch spontane Lösungen zu finden, scheint uns ein wichtiger Erfolgsfaktor bei reinen Online-Schulungen zu sein, der aktiv gefördert werden sollte. Wir haben der Gruppe beispielsweise vorgeschlagen, eine Klassensprecherin zu wählen, die eine Mittlerfunktion zu den Lehrkräften und zum Projekt einnimmt. Für uns war es schön zu sehen, wie der Austausch und das Vertrauen der Frauen untereinander dadurch weiter gestärkt wurde.
Wie geht es weiter? Was geschieht mit den Ergebnissen?
(K.T.) Wir sind mitten in der ergebnisoffenen Entwicklung und haben deshalb großes Interesse daran, Erfahrungen anderer kennenzulernen und gegebenenfalls zu integrieren. Umgekehrt könnten unsere Projekterfahrungen für all jene nützlich sein, die die Aufstiegschancen von Frauen verbessern möchten und hierzu auf Blended Learning setzen. Wir freuen uns deshalb, wenn wir unsere bisherigen Ergebnisse in Fachkreisen vorstellen und diskutieren können. Ein entsprechendes Angebot der Wirtschaftsförderung liegt bereits vor und soll im nächsten Jahr umgesetzt werden.
(Quelle: regionalagentur-wr.nrw)
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